Bergmonografie

Glärnisch

Rosen auf Vrenelis Gärtli. AS Verlag, Zürich 200

Beiträge u.a. von Emil Zopfi, Franz Hohler, Christine Kamm-Kyburz,
Tim Krohn, Priska Landolt, Felix Ortlieb
Fotos von Felix Ortlieb

Entrückt in eine sagenumwobenen Welt

Der Glärnisch war der Horizont meiner Kindheit. Fern im Süden
lagerte er im Dunst, ein mächtiger Saurier aus Stein mit Stummelschwanz,
breitem Rücken, der Kopf ein weisses Rechteck: Bächistock, Ruchen
und Vrenelisgärtli. Meine Mutter erzählte mir die von der Sennerin,
die sich einst aufmachte im engen Tal hinter jenem Berg, Gartenwerkzeug
in einen Kessel packte, hinaufklettert um dort oben ein Blumenbeet
anzulegen, rechteckförmig wie meine Mutter in unserem Garten,
von dem aus wir den Berg in der Ferne erblickten. Sie stammte
aus jenem Tal, Tochter von Bergbauern, so aufmüpfig und ungestüm
wie die Sagengestalt. Der Glärnisch war mein Mutterberg.
Nach ihrem frühen Tod wohnte ich eine Zeitlang im Glarnerland,
im Tal hinter dem Berg. Mein Blick schweifte von Sool aus über
die Felswand des Vorderglärnisch, mein Auge suchte nach einem
Weg in die Höhe, zum Gipfel, hinaus aus der Enge.
Die erste Begegnung mit dem Berg war schrecklich: Ein Mensch stürzte
vor meine Augen in den Tod. Und ich wollte nie, nie mehr etwas
wissen vom Glärnisch, nie mehr wiederkehren. Bis ich selber an
seinem Abhang wohnte. Heimgekehrt in das Tal, die Heimat meiner
Eltern. Täglich blickte ich von Schwändi hinauf zu den braunen
brüchigen Felsen am Gipfel des Vrenelisgärtli. Zum Firn und zu
jener Wand, in der das Unglück geschehen war. Bis mir das Hinaufschauen
unerträglich wurde. Ich musste hinauf, ich machte mich auf.
Dieser Aufbruch wurde zum Eintritt in eine andere Welt. Allein
über die Gletscherfläche wandernd fühlte ich mich entrückt aus
dieser Zeit, in einer sagenumwobenen Welt. Ich konnte mich versöhnen
mit meinem Mutterberg.