Bergkrimi

Steinschlag

Roman aus den Bergen.

Die junge Bergführerin Andrea wird vom alten Amstad für eine Rettungsaktion aufgeboten. War es ein Unfall? Oder sieht Andrea, die Polizistentochter, tatsächlich zu viele Krimis?

Textprobe:

Nach einer Stunde fanden sie die Frau. Sie lag auf einem Felsabsatz
in der Runse unterhalb des Wegs, den Kopf an der Kante nach hinten
geneigt, den Körper ausgestreckt auf abschüssigen Platten. Ihr
Gesicht war bleich und unversehrt, die schmalen Lippen blutlos.
Eine Haarsträhne klebte auf ihrer Stirn und verdeckte ein Auge.
Das andere blickte glasig in den Nebel, der dem Hang entlang strich.
Andrea hatte sie zuerst gesehen, vom Fußpfad aus, der die Runse
an einer abschüssigen Stelle durchquerte. Sie hatte im Nebel einen
violetten Farbfleck entdeckt, den Ärmel einer Faserpelzjacke.
Es war linke Arm der Frau, der eigenartig verkrümmt über die Felsbank
hinausragte, als habe sie im Sturz ihren Kopf schützen wollen.
Amstad kletterte vorsichtig über glitschigen Fels und nasse Graspolster
hinab, Andrea folgte ihm. Er beugte sich über die Frau, die auf
dem Felsabsatz lag, als ob sie sich zum Schlafen niedergelegt
hätte, ergriff ihr Handgelenk, ließ es jedoch gleich wieder los.
«Tot. Schon ein paar Stunden.»
Dann strich er ihr die Haarsträne mit einer fast zärtlichen Bewegung
aus dem Gesicht. «Tot. Nichts mehr zu machen.» Er biss sich auf
die Lippen, wischte sich mit dem Ärmel seiner Windjacke über die
Stirn.
Amstad kannte sich aus. Ein erfahrener Bergführer, seit vielen
Jahren Obmann der Rettungskolonne. Es war gewiss nicht die erste
Leiche, die er bergen musste. Andrea dagegen hatte noch nie einen
toten Menschen gesehen. Sie war oberhalb des Felsabsatzes stehen
geblieben, hielt sich an einem Felsblock fest, der aus dem Steilhang
vorsprang. Blickte auf die Frau hinab, die da lag als ob sie jemand
hingebettet hätte, den Kopf an der Kante zur Seite geneigt, den
Körper ausgestreckt, die Beine übereinander geschlagen.
So liegt man nicht, wenn man gestürzt ist, war Andreas erster
Gedanke. Das Stirnband, im gleichen Violett wie die Faserpelzjacke,
war der Toten über einem Ohr hochgerutscht. Blut war durch die
Haare gesickert und im Schotter zu einer dunklen Kruste geronnen.
Amstad stand neben ihr, die Hände ineinander verklammert, in Schweigen
versunken. Vielleicht betet er, dachte Andrea. Vielleicht ist
es hier der Brauch, dass der Führer ein Gebet spricht, wenn er
am Berg einem toten Menschen begegnet.
«Was denkst du, wie ist es passiert?», fragte sie nach einer Weile,
um das Schweigen zu brechen. Amstad trat einen Schritt zurück,
zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht wirkte grau und müde.

«Steinschlag», stieß er hervor. Das Wort klang so hart, als sei
es selber ein Stein, der sich löst, fällt und aufschlägt. Sein
linkes Augenlid zuckte, als er es aussprach.
«Steinschlag?»
Andrea zog den Kopf ein und warf einen Blick den steilen Hang
hinauf. Es war Sommer, doch in den Schluchten der Felswand, die
sich über ihnen im Nebel erhob, lagen noch Schneereste. Schmelzwasser
konnte Steine mitreißen und sie über die Schutthalden bis auf
den Fußpfad schleudern. Durch die Runse rauschte ein Bach, sodass
man ihr Aufschlagen kaum rechtzeitig hören und sich in Sicherheit
bringen konnte.
«Steinschlag? Sie ist also auf dem Weg getroffen worden. Wie ist
sie denn auf das Felsband gekommen? Gestürzt? In dieser Lage liegen
geblieben? Wie stellst du dir das vor?»
Er hob die Schultern. «Getroffen, gestürzt. Ihr Ehemann hat das
so geschildert. Es wird wohl so sein. Er war ja dabei.»
Amstad hatte am späten Nachmittag angerufen. Andrea stand unter
der Dusche. Sie hatte am Morgen eine Wandergruppe übers Joch geführt,
ein paar Stunden Fußmarsch durch dicken Nebel. Hatte sich auf
einen ruhigen Abend eingestellt. Spaghetti kochen. Fernsehen oder
Musik hören. Nackt und nass eilte sie zum Telefon. «Amstad.» Die
Rettungskolonne sei aufgeboten, Helikopter könnten nicht fliegen
bei dem Nebel. Fußarbeit also. Ob sie bereit sei, ihn zu begleiten.
Es war ihr erster Einsatz, bisher hatte man sie übergangen. Die
junge Bergführerin. Neu im Ort. Neu im Beruf. Amstad erklärte,
die andern Führer seien unterwegs, und allein wolle er den Job
nicht machen. «Wahrscheinlich Leichenbergung», hatte er mit dumpfer
Stimme beigefügt. «Kommst du?»
Natürlich kam sie. Fühlte sich sogar etwas geehrt, obwohl sie
sich auch fürchtete vor diesem «Job», wie er das Suchen und Bergen
einer Leiche bezeichnete. Der Rettungschef bot sie auf, man nahm
sie also ernst. Man nahm sie auf in den Kreis. Sie musste zusagen.
Und nun stand sie an dem steilen Abhang und blickte auf die tote
Frau mit dem wächsernen Gesicht und dem schmalen Körper. Ihr Alter
war schwer zu schätzen. Um die fünfzig etwa.
Andrea wartete, dass Amstad entscheiden würde, was zu tun sei.
Er zog einen ausgebleichten Biwaksack aus seinem Rucksack.
«Wir packen sie ein. Morgen holt sie der Helikopter.»
«Sollten wir sie nicht so liegen lassen?»
«Über die Nacht? Damit sie der Luchs frisst? Oder die Dohlen ihr
die Augen auspicken?»
«Wird es nicht eine Untersuchung geben?»
«Wozu? Ist doch alles klar. Ein Unfall.»
«Ich dachte nur …»
«Was?»
«… das sei vielleicht Vorschrift.»
«Du schaust zu viel Krimis.»
Das stimmte wohl. Wäre sie nicht hier, dann würde sie vor dem
Fernseher sitzen. Sie wohnte allein, im Ort hatte sie noch kaum
Bekannte, in die Stadt war es zu weit nach einem anstrengenden
Tag.
«Von dem Steinschlag müsste man doch Spuren sehen. Frische Steinsplitter.
Einschläge.»
«Wahrscheinlich war es nur ein einziger Stein.»
«Hat der Mann die Polizei informiert?»
«Ich denke schon.» Amstad begann den Biwaksack zu entrollen. «Wir
müssen vorwärts machen.»
Er war der Obmann, er hatte entschieden. Er riss einen Reißverschluss
auf, breitete den Sack neben der Toten auf dem Felsabsatz aus
so gut es ging.
Andrea zog ihr Handy aus einer Innentasche ihres Faserpelzes.
Sah auf dem Display, dass an diesem Ort kein Empfang möglich war.
Ihr Vater war ihr eingefallen. Vielleicht hätte der pensionierte
Polizist einen Rat gewusst. Durfte man die Tote anfassen, bevor
Spuren gesichert waren? Was war die Vorschrift? Bei ihr bleiben
während der Nacht, Totenwache halten? Oder hatte der Bergführer
recht, der schon Dutzende von Leichen geborgen hatte? Sicher hatten
sie das korrekte Vorgehen bei Unfällen im Führerkurs behandelt,
aber in diesem Augenblick erinnerte sich nicht mehr.
Sie steckte das Mobiltelefon ein.
«Halt ihre Füße fest, sonst rutscht sie ab.» Amstad hüllte die
Tote ein, zog den Reißverschluss zu und verknotete Bänder. Dann
holte er aus dem Rucksack eine Reepschnur, schlang sie um den
Felsblock, fädelte ihre Enden durch die Ösen des Biwaksacks. Nun
hing die Tote da wie eine gelbe Raupe, die sich an einen Stein
geheftet hat, um sich zu verpuppen.
«Das wärs dann.» Amstad zupfte an den Schnüren, um sich zu vergewissern,
dass sie gut befestigt waren. Dann zündete er sich nochmals eine
Zigarette an. «Rauchst du?» Er streckte Andrea die Packung hin.
Sie schüttelte den Kopf.
«Wen wolltest du anrufen? Polizei?»
«Nicht eigentlich.»
«Was heißt das?»
«Meinen Vater. Er ist früher Polizist gewesen. Pensioniert.»
«Verstehe.» Amstad trat einen Schritt näher, stützte sich mit
einer Hand auf den Felsblock. Sein Gesicht war hager, die Haut
bildete Furchen, in denen Bartstoppeln spross en. Ein Gesicht
wie eine Felswand, dachte sie.
«Es ist wohl deine erste … ?» Er suchte nach Worten. Seine Stimme
klang heiser. Als Andrea ihn das erste Mal getroffen hatte, hatte
sie geglaubt, er sei erkältet.
«Es ist deine erste Bergung, nicht wahr?»
Sie zog mit der Spitze des Bergschuhs eine Rinne in den Schutt,
schaute zu, wie sie sich mit Wasser füllte. Spürte ein Würgen
im Hals.
«Man muss sich daran gewöhnen. Als Bergführer.» Er gab ihr einen
leichten Stoß an die Schulter. «Oder als Bergführerin. Es gehört
zu unserem Beruf.»
Andrea zupfte ein Papiertaschentuch hervor, wischte sich übers
Gesicht und schnäuzte sich.
«Gehen wir?» Er hob seinen Rucksack auf. «Danke noch, dass du
mich begleitet hast.»
Sie wechselten einen Blick. Seine Augen waren hell und kalt, als
ob sie zu einem anderen Menschen gehörten. Das linke schielte
ein wenig und das Lid zwinkerte, als ob er sich über etwas lustig
mache, das die Tote nicht hören durfte. Er spürte, dass sein Tick
Andrea irritierte, drehte den Kopf und begann, zum Weg aufzusteigen.
Es war dunkel geworden. Der Nebel verwischte alle Formen. Sie
folgte der leicht vornübergebeugten Gestalt des Bergführers auf
dem Pfad, der die Runse durchquerte, einem Felsband folgend, dann
über Geröllhalden und Weiden hinab zur Alp. Sie schritten rasch,
in Gedanken versunken und ohne weitere Worte zu wechseln.

Stimmen zum Roman «Steinschlag»

Hansruedi Brunner, Geshäftsführer der Buchhandlung zum Elsässer,
Zürich, «…
empfiehlt seinen Kunden die faszinierenden neuen Romane von Emil
Zopfi, Ian McEwan und Henning Mankell.» Züri Express, 26.11.2002

Franz Hohler: Mit grosser Spannung bin ich deinem «Steinschlag» gefolgt, bin
zuletzt nachts erwacht und hab gedacht, jetzt musst du wissen,
wer Claudia wirklich umgebracht hat und hab ihn zu Ende gelesen.
Eine schöne Hauptfigur hast du kreiert und sie in dieses missgünstige
Bergdorf gesetzt, wo sie wohl auch noch nach einem Dutzend weiteren
Bergungen fremd bleiben wird. Auch den kurligen Vater mag man
sich gern vorstellen, und wenn im nächsten Buch die
Longline eines Rettungshelikopters zufällig reisst und weder Andrea
noch der alte Robert an einen Zufall glauben, bin ich jedenfalls
gern wieder dabei.

Evi Bolt, Bergführerin in Ausbildung, Amden: Mir sind ds Kalymnos am chlättere und dis Buech Steinschlag han
ich da wellä lese aber wills äsu guät isch han ichs schu fertig
ka bevor mir da anchuu sind. Komplimänt, hät mir usinnig guet
gfalle.

Ruedi Stolz, Inhaber Ruedi Bergsport, Zürich: Wenn unsere Arme müde sind, schlagen wir dein neues Buch auf
und lesen, lesen, lesen. Es hat uns sehr gut gefallen und war
spannend bis zum Schluss.

Silvia Honegger, Autorin und Lehrerin: Ich habe «Steinschlag» in die Provence in meine Ferien mitgenommen
und konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Der alte Amstad ist
ein eindrücklicher Gegenspieler Andreas. Und deine Andrea, dieser
Lonesome Cowboy, hat mich total fasziniert. Ihre Eigenwilligkeit
und Bereitschaft, einen hohen Preis für ihre Unabhängigkeit, aber
auch ihre Integration in einem feindlichen Umfeld zu bezahlen,
hast du total überzeugend dargestellt. Sehr fasziniert hat mich
deine hohe Sachkenntnis im Bergsteigermilieu, vor allem auch deine
wunderbaren Schilderungen der Natur und ihrer Erscheinungen. Du
schreibst leicht und flüssig, so dass man, wenn man nicht genau
hinsieht, gar nicht bemerkt, welche Genauigkeit in der Beobachtung
und in der Wortwahl dahinter steckt. Spannend war es bis zum Schluss.
Und dieser ist genial. Denn ich weiss bis jetzt nicht, ob Andrea
erfroren oder gerettet worden ist, auch nicht, was wohl besser
für sie gewesen wäre.

Daniel Anker, Buchautor und Journalist, Schweizerischer Bibliotheksdienst,
Oktober 2002:
Wehe, wenn plötzlich ein Stein fällt. Dafür sitzt jeder Satz.
Ein atemberaubender Bergkrimi von jemandem, der beides wirklich
kann: klettern und schreiben. Wir hoffen auf eine Fortsetzung,
so wie «Die Wand der Sila» aus dem Jahre 1986 mit «Steinschlag»
auch eine Fortsetzung fand. Aber wir möchten nicht mehr so lange
warten.