Kilchenstock Reportage

Kilchenstock

der Bergsturz in den Köpfen • Limmat Verlag, Zürich 1996
Reportage zum Roman

Die Fotos, welche durch die Links abrufbar sind,
stammen aus dem Archiv des Ortsmuseums Linthal.

«Möge das Mindestmass von Unglück über Linthal ergehen!»

Am 15. November 1930, einem regnerischen Samstagmorgen, gibt ein
alter Mann im Postbüro Zürich Hottingen ein Telegramm auf, adressiert
an den Landammann des Kantons Glarus. «Absturz scheint nahe. Empfehle
Anordnung zu Räumung und Flucht.» Der Kilchenstock bei Linthal lastet dem 81jährigen Albert Heim auf der Seele, der Doyen der Schweizer Geologie fühlt sich von
Behörden und Bevölkerung missverstanden, er glaubt, seine unablässigen
Warnungen vor einer gewaltigen Bergsturzkatastrophe würden von
den Betroffenen nicht ernst genommen. «Warnt er nicht kräftig
und es kommt der Sturz unverhofft, so wird er beschuldigt. Warnt
er sehr kräftig, so kann eine Panik entstehen. Und wenn es dann
wieder etwas stille steht, so wird der Geologe, der Angst gemacht
hat, furchtbar verdammt und beschuldigt», hat er wenige Tage zuvor
in einem zehnseitigen Brief in zittriger Handschrift dem Linthaler
Pfarrer Friedrich Frey geschrieben. Er drückt das Dilemma eines Wissenschaftlers aus,
der eine Katastrophe ankündigt, von der die Betroffenen nicht
wissen wollen.

Die Gefahr eines Bergsturzes am Kilchenstock ist im Herbst 1930
jedoch so akut geworden, dass die Regierung in Glarus handeln
muss. Drei Tage nach Heims Telegramm warnt sie in einem Aufruf
die Einwohner von Linthal und empfiehlt, «wertvolle Gegenstände
in sichere Verwahrung zu geben und entbehrliche Mobilien bei Verwandten
unterzubringen». In der Gipfelzone des Berges, der sich wie ein
gewaltiger, pyramidenförmiger Schutthaufen unmittelbar östlich
des Dorfes erhebt, rutscht eine Felsmasse von geschätzten 100 000
Kubikmetern mit einer Geschwindigkeit von einem Zentimeter pro
Tag zu Tal. Vier tiefe Runsen durchfurchen den Schutzwald, seit
Monaten prasseln Steinschläge herab; im Frühling hat eine riesige
Schlammlawine, ein sogenannter Murgang, die Gärten und Felder zwischen dem
Dorf und dem Bergabhang meterhoch mit Schutt überdeckt. Sonntag
und Werktag wird an einem Schutzwall gebaut, der das Geschiebe vom Dorf fernhalten soll. Ein Fluchtplan
ist ausgearbeitet, ein Wachdienst aufgezogen, Scheinwerfer installiert,
welche im Notfall den Berg wie ein Gefechtsfeld beleuchten sollen.

Zwei Tage nach dem ersten Aufruf, nach einer Sitzung mit dem offiziellen
Gutachter Rudolf Staub, Professor am Lehrstuhl für Geologie von
ETH und Universität Zürich, erlässt der Regierungsrat den dramatischen
Appell, einen Teil des Dorfes zu evakuieren. «Die Erfahrungen
beim Bergsturz von Elm im Jahre 1881 zeigen, dass die Bewohner
nie an einen Bergsturz glauben wollten und sich in Sicherheit
wiegten, bis es zu spät war.» Am Freitag, also eine Woche nach
Albert Heims Telegramm, mobilisiert die Militärdirektion Sappeure
und Infanterie, um den Betroffenen, die nur bedächtig zum Aufbruch rüsten, bei der Flucht zu helfen. «Zum Schluss räumte man fast zwangsweise», erinnert
sich ein Augenzeuge. Schliesslich sind 61 Häuser verlassen und
513 Menschen evaquiert, während sich einige bis zuletzt der Räumung
widersetzen. Zum Beispiel der «Coiffeur Fritz», ein Dorforiginal,
der weder den Experten vertraut noch den Behörden, sondern allein
seiner Katze. So lange diese nicht fliehe, erklärt er, hätten
auch die Menschen nichts zu befürchten.

Die Geschichte des Kilchenstocks bei Linthal ist ein Lehrstück
über das Verhalten von Menschen angesichts einer prognostizierten
Katastrophe. Die Linthaler hatten zu wählen zwischen den Erkenntnissen
der Wissenschaftler, den Anordnungen der Politiker und eigener
Erfahrung, eigenem Gefühl, eigenen Interessen. Die Entscheidung,
zu gehen oder zu bleiben, wird schliesslich zur Glaubensfrage.
«Wie sollte ich, der Pfarrer, mich hierin verhalten?» schreibt
Friedrich Frey, der sich seiner Rolle in diesem Augenblick wohl bewusst ist.
«Ich wusste, dass man auf mein Verhalten mit Sperberaugen hinsah.
Das Verhalten der Regierung, die sagte: lieber zu viel evaquieren
als zu wenig, hielt ich grundsätzlich für richtig. Mit dem Zeitpunkt
war ich nicht einverstanden.» Mit einem Trick gelingt es den Behörden
schliesslich, auch den Pfarrer zum Auszug zu bewegen. Sie räumen
das Gemeindearchiv im Pfarrhaus. «Da glaubten die Menschen auf
der Strasse, der Pfarrer ziehe aus, er ‹fliehe›. Das hatte zur
Folge, dass viele ihr Hab und Gut zusammenräumten und anderswo
Platz suchten.»

Eine Kirche hat dem Berg den Namen gegeben und damit eine gewisse Symbolik
verliehen. 1283 erbaut, stand die erste Linthaler Kirche während
rund siebenhundert Jahren unbehelligt am Fuss des bewaldeten Abhangs,
der steil aufsteigt bis zum Gipfelgrat, tausend Meter über der
Talsohle. Zur Zeit der Industrialisierung wurde Holz geschlagen,
es lag sozusagen vor der Tür, es wurde Raubbau getrieben; Steine
begannen vom Berg zu rollen, fielen aufs Kirchendach. Das Schiff
wurde abgerissen, doch der alte Turm steht noch heute, umrankt von Stauden, in wuchernder Wildnis
versteckt. Ob der Raubbau am Wald die Ursache der Felsbewegung
bildete, ist wahrscheinlich aber nicht nachweisbar. Jedenfalls
begannen sich Runsen gegen Ende des letzten Jahrhunderts immer
tiefer in den Abhang zu fressen, Wasser schoss herab, riss Holz
und Geschiebe mit sich. Die Anstösser schlossen sich zu Runsenkorporationen
zusammen, verbauten und forsteten auf, doch das genügte nicht.
1909 fegte eine riesige Lawine zu Tal, und damit begann ein jahrzehntelanges
Desaster.

Die neue reformierte Kirche und das Pfarrhaus stehen genau in
der Fallinie der «Ätschruns», einer schrecklich steilen Schlucht,
durch welche die Geologen den Hauptsturz erwarteten. Ein reichlich
unangenehmer Amtsitz also; die Kirchgemeinde hatte deshalb erhebliche
Schwierigkeiten, ihn im Jahr 1929 neu zu besetzen. «Ich war mir
bewusst, dass es den Anschein weckte, als fliehe ich feige vor
dem Kilchenstock», erinnert sich der abtretende Pfarrer Arnold
Brändli. Für Friedrich Frey jedoch ist der Berg eine Herausforderung.
Kaum in Linthal angekommen, steigt er hinauf bis unter den Abbruch,
wo eine Schutzütte steht, und beginnt Buch zu führen über seine
Beobachtungen, notiert jeden Steinschlag oder Murgang, fotografiert
Felsspalten und Anrisse, misst die Temperatur in den Klüften,
zersägt Tannenwurzeln, um an deren Spannung den Druck des Bergs
abzuschätzen. «Vater wollte eigentlich Naturwissenschaften studieren,
aber das war brotlos», erinnert sich sein Sohn. Besonders lukrativ
war jedoch auch das Linthaler Pfarramt nicht, dafür umso mehr
mit sozialen Aufgaben belastet. Frey war auch noch Schulpräsident,
Präsident der Armenbehörde und der Krankenpflege – und schliesslich
Vater von acht Kindern. Nachts beobachtete er auch noch den Himmel,
entwickelte im Keller des Pfarrhauses Fotos und führte eine umfangreiche
Korrespondenz, unter andern mit Albert Heim. Allmählich wurde
er zum engen Vertrauten des alten Herrn, der schwer leidend war
und nicht mehr selber auf den Berg steigen konnte.

«Der Gefahr bin ich bewusst. Ich habe seit meinem Hiersein in
dem Sinne gewirkt, dass ich affektiv beruhigend auf die Bevölkerung
einzuwirken suchte, die Behörde aber immer wieder auf die Gefahr
und ihre Verantwortung aufmerksam machte», schreibt Frey in seinem
ersten Brief an Heim, der sich endlich von jemandem verstanden
fühlt in seiner Überzeugung, die Katastrophe sei unabwendbar.
Am 18. November 1930 schickt er dem Pfarrer eine Postkarte, in Eile, nach schlafloser Nacht: Möge das möglichste Mindestmass
von Unglück über Linthal ergehen! Ich bin in Gedanken Tag und
Nacht bei Ihnen.» Mit der Zeit macht sich der Hobbywissenschaftler
Frey den Standpunkt des berühmten Geologen so sehr zu eigen, dass
er sich einen Felssturz fast herbeiwünscht, als sich der Berg
einmal beruhigt: «Unsere Gegner triumphieren und haben die öffentliche
Meinung wieder ganz auf ihrer Seite. Ich hoffe nur, dass ein grösserer
Vorsturz dereinst die Menschen vom Berge wegjagt, sonst ist ein
grösserer Menschenverlust möglich.»

Am Kilchenstock wurde zum ersten Mal ein sich anbahnender Bergsturz
wissenschaftlich exakt beobachtet. Millimetergenau vermass Hans Härry, ein Ingenieur des eidgenössischen Grundbuchamtes in Bern, die
Bewegung der gleitenden Felsmasse und zeichnete mintuiöse Diagramme von Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit der über zwanzig Messpunkten
in der Absturzzone. Über diese Messungen wird noch heute im Glarner
Hinterland erzählt, man habe vom gegenüberliegenden Braunwald
aus gemessen und dabei lange nicht gemerkt, dass die Braunwalder
Terrasse rutsche und nicht der Kilchenstock. Diese Überlieferung
ist falsch, Härrys Messungen waren exakt, das Problem war die
Interpretation der äusserst komplexen Gleitbewegung, und hier
schieden sich die Geister. Im Winter kam die Bewegung zum Stillstand,
der Berg «schlief ein», wie die Leute sagten. Im Sommer begann
die Masse erneut zu rutschen, vor allem nach starken Regenfällen. Im Oktober und November war die Geschwindigkeit am grössten
und damit die Gefahr. Grob gesagt gab es drei Szenarien: Der Berg
stürzt in einem Schub, was die Katastrophe bedeutet, der Abbruch
vollzieht sich in kleineren Stücken, immer noch schlimm genug,
oder er bröckelt allmählich ab. Jede Prognose hatte ihre Anhänger,
sowohl in der Bevölkerung wie auch unter den Experten. Eine Karikatur
im «Nebelspalter» zeigt den Kilchenstock als Berggeist, der zu
den ratlosen Geologen sagt: «Eure Wissenschaft in Ehren – aber
ich komme, wann ich will.» Auch die Wissenschaft wurde schliesslich
zur Glaubenssache.

«Eine fürchterliche Katastrophe ist so wahrscheinlich, dass Schweigen
meinerseits mir als Verbrechen erschiene», schreibt Albert Heim
schon 1928 an den Glarner Regierungsrat und noch im Herbst 1932
hält er in seinem Alterswerk «Bergsturz und Menschenleben» an
seiner Prognose fest: «Am Kilchenstock bereitet sich ein Bergsturz
mit eiserner Konsequenz vor.» Anschaulich schildert er, wie sich
der Absturz vollziehen werde: Das Knarren und Knirschen im Innern
des Bergs, die wachsende Unruhe unter den Tieren, Steinfall, Steinlawinen
und dann der Hauptsturz «mit der Geschwindigkeit eines Geschosses
unter furchtbarem Donnern den Berg hinab und weit über den Talboden
hinaus.» Heims traumatische Vision ist geprägt vom Bergsturz von
Elm, den er 1881 kurz nach dem Niedergang als Gutachter besucht
hat, und bei dem 114 Menschen zu Tode kamen. Es darf kein zweites
Elm geben! war der Gedanke, der ihm den Schlaf raubte.

Albert Heims wissenschaftliche Karriere war aufs engste mit dem
Glarnerland verbunden. Als Gymnasiast hatte er nach einer Wanderung
ein Relief des Tödimassivs modelliert, Arnold Escher von der Linth
hatte es begutachtet; der junge Heim wurde sein Schüler und später
Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Geologie. Die Theorie seines
Vorbilds Eschers von der Entstehung der Glarneralpen durch eine
doppelte Gesteinsfalte erhob Heim zur Lehre – bis sie schliesslich
von der modernen Deckenlehre des Franzosen Marcel Bertrand und
der Westschweizer Maurice Lugeon und Hans Schardt vom Sockel gestürzt
wird. Schardt wird Heims Nachfolger auf dem Zürcher Lehrstuhl
und – hier schliesst sich der Kreis – erster Gutachter am Kilchenstock.
Der Berg wird damit zum Schauplatz der Schlussrunde in einem jahrzehntelangen
akademischen Streit.
«Dagegen halte ich denjenigen, der dann mit der Oberexpertise
betraut worden ist, der richtigen Beurteilung dieses Falles nicht
fähig», schreibt Heim vertraulich dem Glarner Landammann, nachdem
Hans Schardt 1928 ein beruhigendes Gutachten geliefert hat, welches
ein allmähliches Abbröckeln des Bergs als wahrscheinlich bezeichnet.

Die dritte Möglichkeit, also nicht die grosse Katastrophe, sondern
eine Serie von kleineren Niedergängen, wurde vor allem von Rudolf
Staub vertreten, ebenfalls einer grossen Persönlichkeit in der
Landschaft der Schweizer Geologie. Die Freundschaft, die er einst
mit Heim gepflegt hatte, war getrübt, seit Staub 1928 Schardts
Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Geologie geworden war, auf dem
Heim gerne seinen Sohn Arnold gesehen hätte. Ob dem Kilchenstock
zerstritten sie sich endgültig, denn Staub fühlte sich durch die
Darstellung seiner Gutachtertätigkeit in Heims Buch «Bergsturz
und Menschenleben» gekränkt.

Während Albert Heim nach einem Vortrag im Hotel Adler in Linthal
durch sein volkstümliches Auftreten und seine fast biblische Erscheinung
– langes weisses Haar und Vollbart – die Einheimischen für sich
einnahm, trotz seiner düsteren Prognose, war der distinguierte
Staub in Linthal unbeliebt. Er fuhr im eigenen Automobil vor,
hielt Distanz zum gewönlichen Volk und liess sich die Verpflegung
auf den Berg tragen. Seinem Stil entsprachen seine Honorare. Für
drei Begehungen verrechnete er der Gemeinde 1500 Franken – Spesen
und grössere Berichte extra. Das entsprach etwa dem Jahreslohn
einer Arbeiterin.
«Die Evaquierung wurde als Ihr persönlicher Racheakt angesehen.
Auf Strassen, Gassen, in Wirtshäusern und Stuben hagelt es Schimpf-,
Hass- und Spottreden über die Geologen und Sie besonders», schreibt
ihm Friedrich Frey, als sich Staub beleidigt zeigt, weil man «Papa
Heim» und nicht Ihn zu dem Vortrag nach Linthal gerufen hat.
Vehement dementiert Rudolf Staub eine Reportage des Glarner Schriftstellers
und Journalisten Kaspar Freuler, der am 24. November 1930 in der
NZZ schreibt, der Professor habe dem Berg noch 18 Tage Frist gegeben
bis zum Absturz. Die Wissenschaftler hätten die Katastrophenszenarien
nur erfunden, um durch die Expertentätigkeit Geld zu verdienen,
ist eine landläufige Meinung. Schliesslich verbietet die Regierung
der Presse, «übelprognostischen Berichte» zu verbreiten, um Industrie
und Gewerbe nicht noch mehr zu schädigen.

Ein Unglück kommt bekanntlich selten allein. Die Weltwirtschaftskrise
macht Anfang der dreissiger Jahre der lokalen Textilindustrie
schwer zu schaffen, Entlassungen, Lohnabbau, Kurzarbeit sind häufig.
Die Arbeit am Schutzdamm ist deshalb für viele ein willkommener
Verdienst. Die Spinnerei Bebié u. Co., die in der Gefahrenzone liegt, stellt im Sommer 1930 den Betrieb
ganz ein, der Besitzer Albert Bebié, früher Gemeinde- und Landrat
und Initiant der Braunwaldbahn, ist mit seiner Familie ins Unterland
gezogen. Das Gerücht, dass er die Fabrik nicht nur wegen der Krise,
sondern auch wegen dem Kilchenstock schliesst, wird auch von der
Presse kolportiert. Eine Zeitung schreibt vom «Gesuch eines Industriellen
in Linthal, der bei der glarnerischen Regierung eine halbe Million
Franken Schadenersatz nachsuchte für den Fall, dass sein Betrieb
durch einen Felssturz Schaden nehmen sollte.»

Durch die Evakuierung geraten viele Familien in Not. Der unermüdliche Pfarrer Frey
wird nun auch noch Präsident eines Hilfskomitees, das Geld und
Spenden sammelt, für Unterkunft und das Unterbringen von Kindern
bei auswärtigen Gastfamilien sorgt; minutiös führt seine Frau
Buch über jedes Paar getragener Schuhe, jeden Wintermantel oder
Suppenwürfel, der eingeht und verteilt wird. 37 000 Franken bringt
eine von der NZZ unterstützte Sammlung schliesslich ein, so dass
jedem Evakuierten zunächst ein Weihnachtsgeld von 20 Franken ausbezahlt
werden kann. Dass nicht leicht festzustellen ist, wer nun wirklich
weggezogen ist und nur tagsüber zurückkehrt, um irgend etwas zu
erledigen, gibt natürlich zu reden. Jedenfalls mahnt der Gemeinderat,
dass «Leute, die den behördlichen Weisungen keinerlei Beachtung
schenken, auf eine Unterstützung zu verzichten haben.»

Ein reger Katastrophentourismus bringt auch «Experten» nach Linthal,
die mit Pendeln und Wünschelruten auf den Berg steigen und die
abstrusesten Theorien verbreiten, etwa unter dem Kilchenstock
lagere ein Gletscher oder ein unterirdischer See. Der Astrologe
Ferdinand Hoyer aus Graz stellt einen «kausalen Zusammenhang mit
den kosmischen Korrelationsfaktoren des unter 9 Grad östl. Länge
und 47 Grad 10 Minuten nördlicher Breite liegenden Kilchenstockes»
fest und schliesst daraus, «dass der Lösungsprozess der inneren
Bindung des Gesteinskonglomerates bis 19. Dezember 1930 abgeschlossen
sein wird und am 20. Dezember der Bergsturz in seinem ganzen Ausmasse
erfolgen könnte.» Ebenso nehmen sich die Hobbydicher des Bergs
und der armen Menschen an – es gibt wohl keine Schweizer Zeitung,
die nicht unter dem Strich ein bewegendes Gedicht über Bangen,
Hoffen und Bruderliebe eingerückt hätte.

Als 1932 ein zweiter grosse Schub vom Berg einsetzt, ist der Kilchenstock
längst zum Medienereignis geworden, deutsche und italienische
Zeitungen drucken Reportagen, denn Linthal ist international bekannt
durch das Bergrennen am Klausenpass, das alle zwei Jahre stattfindet.
Im August, während auf der gegenüberliegenden Talseite die Motoren
dröhnen und dreissigtausend Zuschauer den Rennfahrern Rudi Caracciola
und Hans Stuck zujubeln, lassen die Behörden die Gefahrenzone
sperren. Dass diese Massnahme im Fall eines Bergsturzes nicht
genügt hätte, ist der zuständigen Kommission des Regierungsrates
bewusst, gibt sie doch in einem Bericht zu, «dass weitere Massnahmen
getroffen würden, wenn nicht das Klausenrennen vor der Tür stünde.
Sobald diese sehr einträgliche sportliche Veranstaltung vorüber
ist, wird die Kommission erneut Massnahmen prüfen müssen.»

Eine der Massnahmen, die auch Albert Heim empfiehlt, ist eine
totale Umsiedlung des Dorfes. «In gewissen Ländern würde man eine
solche Umsiedlung militärisch zwangsweise vollziehen, und die
neuen Wohnungen wären zunächst Militärbaracken oder Zelte», schreibt
er an den Regierungsrat. Doch so weit kommt es nicht. Nach dem
Abbruch einer Felsmasse in der Nacht vom 6. November 1932 und dem Absturz von 20 000
Kubikmetern Fels, beginnt sich der Berg zu beruhigen. Ein Jahr
später verzeichnet Friedrich Frey in seinen Notizheften die letzten
Felsstürze. Klettert man heute durch die Abbruchzone, durch splittriges
Schiefergestein und Sandsteinbänke, so stellt man fest, dass buchstäblich
Gras und Gebüsch über den Schauplatz einer Katastrophe wächst,
welche doch nicht stattgefunden hat. Oder noch nicht?